9 Krim Geschichte
Von Atlantis gehört? Wie ein Land verschwand, ein Volk verschwand und wer veranwortlich ist: die Geschichte der Krim.
- Die Krim hat tatarische und ukrainische Wurzeln.1
- Das russische Reich hat mehrfach versucht, die Krim gegen den Willen der Krimbewohner zu erobern und zu russifizieren.
Zur Annexion der Krim siehe Kapitel 10.
9.1 Sprache
9.1.1 Die Krim ist Ukrainisch
Viele internationale Politiker verkündeten, dass die Russische Föderation legitime Rechte auf diesem Gebiet hat, da die russische Sprache auf der Krim weit verbreitet ist. Dieser Gedanke deckt sich mit dem russischen geopolitischen Projekt “Russische Welt”,2 das die Zusammenführung der russischsprachigen Bevölkerung in der ganzen Welt vorsieht. Dabei werden jedoch die ukrainische und die krimtartarische Sprache verschwiegen und Normen des Völkerrechts außer Acht gelassen.
Eine ganze Reihe internationaler Abkommen verurteilt die unrechtmäßige Veränderung der Grenzen, darunter die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 und das Protokoll zum GUS-Pakt von 1991. Der Grundsatz der territorialen Integrität ist in Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta3 verankert und wurde als Völkergewohnheitsrecht anerkannt. Nach diesem Grundsatz ist die gewaltsame Durchsetzung einer Grenzänderung ein Akt der Aggression. In keinem dieser Abkommen wird die Sprache als Voraussetzung für eine Grenzverletzung genannt.
9.1.2 Keine Unterdrückung russischer Sprache
Nach der Repatriierung der Krimtataren4 in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren bestand die ethnische Zusammensetzung der zwei Millionen Einwohner der Krim zu etwa 60–63 % aus Russen, 22–25 % aus Ukrainern und 12–14 % aus Krimtataren.5 Angesichts dieser ethnischen Vielfalt schützen die Artikel 24.2 und 53.5 der ukrainischen Verfassung die sprachlichen Rechte und Freiheiten, indem sie sprachliche Diskriminierung verbieten und das Recht auf das Erlernen und den Gebrauch der Muttersprachen garantieren.6
Dementsprechend konnten die Bürger der Krim Russisch nicht nur als Alltagssprache, sondern auch für kulturelle und Bildungszwecke frei anwenden. Es ist auch erwähnenswert, dass die Krim eine autonome Region innerhalb der Ukraine ist, deren eigene Verfassung den besonderen Status der russischen Sprache festschreibt. Die russische Sprache wird in der Region insbesondere bei der Ausstellung von Pässen, Führerscheinen, Geburts-, Heirats-/Scheidungs- und Sterbeurkunden sowie bei der Anbringung von Produktinformationen auf Etiketten verwendet.
Im Jahr 2001 wurden 90,7 % der Schüler auf der Krim in den Schulen in Russisch unterrichtet und 99,2 % lernten Russisch als Fach, obwohl die russische Sprache nie die offizielle Sprache der Ukraine war. Die wöchentliche Auflage von Zeitungen in russischer Sprache erreichte 500.000 Exemplare, in ukrainischer Sprache 3.000 und in krimtatarischer Sprache 2.000. Alle Fernseh- und Rundfunkanstalten auf der Krim sendeten auf Russisch. Nur die staatliche Fernseh- und Rundfunkgesellschaft “Krim” hatte ukrainische, krimtatarische, armenische, deutsche und bulgarische Programme, deren Sendezeit jedoch nicht mehr als 20 % des gesamten Sendevolumens der Gesellschaft ausmachte. Außerdem waren 90 % der in der Krim-Region veröffentlichten Bücher in russischer Sprache.7
Siehe auch Kapitel 44.
9.2 Geschichte
9.2.1 Die Krim gehörte nur kurz zu Russland
In ihrer jahrtausendelangen Geschichte war die Krim nur 171 Jahre lang (1783–1954) Teil Russlands. Das Gouvernement Taurien, das nach der Annexion des Krim-Khanats durch das Russische Kaiserreich im Jahr 1783 eingerichtet wurde, umfasste nicht nur die Krim, sondern auch die Gebiete der heutigen ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja.
Die russische Bevölkerung auf der Krym gewann erst nach 1783 zahlenmäßig an Bedeutung, als die russische Zarin Katharina Il. die Halbinsel annektiert hatte. Das heißt, für die gesamte dreitausendjährige Geschichte der Krym macht die Anwesenheit von Russen dort nur 8% aus. So waren zum Beispiel im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts auf der Krym 95% der gesamten ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung Krymtataren (heute sind es nur noch 13%), die anderen 5% waren Griechen, Armenier, Karäer und Krymtschaken.8 Der Annexion durch Katharina I., die eine Massenmigration der lokalen Bevölkerung in das Osmanische Reich (hauptsächlich in die Türkei) zur Folge hatte, war die Zerstörung des Krym-Khanats vorausgegangen - eines unabhängigen Staates der Krymtataren, der 1441 gegründet worden war.9
Im 18. und 19. Jahrhundert unternahm Russland umfassende Anstrengungen zur Russifizierung der Krym. Die russische Sprache wurde offiziell, die russische Orthodoxie als vorherrschende Religion eingeführt und die muslimische Bevölkerung diskriminiert. Nach der Niederlage im Krymkrieg (1853-1856) verschärfte Russland seine repressive Politik gegenüber den Krymtataren und löste eine massive Welle erzwungener Migration aus. Ende des 19. Jahrhunderts lebten weniger als 200000 Krymtataren auf der Krym.10
Während der ukrainischen Revolution im Jahr 1917 rief der ukrainische Zentralrat die Ukrainische Volksrepublik (UNR) aus, zu deren Gebiet das Gouvernement Taurien ohne die Krim gehörte. Die neue Regierung respektierte die demokratischen Prozesse auf der Krim, und die UNR-Armee versuchte erst dann, die Kontrolle über die Krim zu übernehmen, als die Bolschewiki die Volksrepublik Krim stürzten und ihren Präsidenten Noman Çelebicihan hinrichteten. Eine gemeinsame Militäroffensive kaiserlicher deutscher und ukrainischer Truppen im April 1918, die als Krim-Operation bekannt wurde, war erfolgreich und führte zur Auflösung der Taurischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die deutschen Vertreter forderten jedoch später von der Regierung in Kyjiw den Abzug des ukrainischen Militärs von der Krim und den Verbleib der Halbinsel unter deutscher Kontrolle.11
Während des Zweiten Weltkriegs ereignete sich eine Tragödie, welche die ethnische Zusammensetzung der Halbinsel für immer veränderte. Nach der Befreiung der Krim von den Nazis beschuldigte Moskau die Krimtataren grundlos der Kollaboration mit den Nazis. Ab dem 18. Mai 1944 deportierte der Kreml mehr als 200 000 Menschen, darunter auch Neugeborene, nach Zentralasien und in andere sowjetische Binnengebiete.12 Diese Deportation wurde zum Völkermord, bei dem nach Schätzungen der sowjetischen Behörden 25 % der Krimtataren ums Leben kamen. Krimtatarische Aktivisten nehmen an, dass 46 % der krimtatarischen Bevölkerung umgekommen sind.13 Mit der Deportation zerstörten die russischen Streitkräfte vorsätzlich die einheimische Kultur und das Erbe der Krimtataren. Sie veränderten gewaltsam die ethnische Zusammensetzung der Halbinsel, und so entstand der Mythos, die Krim sei “russisches Territorium”.14
1954 beschloss Moskau, die Krim an die Ukraine zu übergeben. Die sowjetischen Behörden begründeten ihre Entscheidung mit der wirtschaftlichen und territorialen Verwandtschaft sowie den engen Handels- und Kulturbeziehungen zwischen der Krim und der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nach der Entscheidung, die Krim 1954 in die Ukraine einzugliedern, wurde die Halbinsel in großem Umfang von den südlichen ukrainischen Regionen aus besiedelt, um die Halbinsel nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufzubauen und die lokale Wirtschaft zu fördern.
Nachdem die Ukraine unabhängig geworden war, erkannte Russland ihre Grenzen an. Im Budapester Memorandum von 1994 wurde die Unverletzlichkeit der Grenzen im Gegenzug für den Verzicht auf Atomwaffen zugesichert. In den Vereinbarungen von Sotschi 1995 bestätigte Russland den Status der Krim als Teil der Ukraine, drängte aber auf exklusive Rechte auf Stationierung in Sewastopol im Rahmen eines langfristigen Pachtvertrags.15 Im 1997 zwischen Russland und der Ukraine unterzeichneten “Großen Vertrag” wurde schließlich festgelegt, dass beide Länder die territoriale Integrität des jeweils anderen respektieren.
9.3 Kultur
Aliev:2023↩︎
Masiyenko, Y., Zahryvenko, K., Koval, N., & Tereshchenko, D. (2022). “The Russian flag will be flown wherever Russian is spoken”: “Russkiy Mir” Foundation. In Ukrainian Institute. Retrieved April 30, 2024, from https://ui.org.ua/wp-content/uploads/2022/07/case-study_russkiy-mir-foundation.pdf↩︎
United Nations Charter (full text) | United Nations. (n.d.). United Nations. https://www.un.org/en/about-us/un-charter/full-text↩︎
Repatriation and integration of the Tatars of Crimea. (2000, February 18). Retrieved April 30, 2024, from https://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewHTML.asp?FileID=8863&lang=EN↩︎
UKRAINE 2013 HUMAN RIGHTS REPORT. (n.d.). In Country Reports on Human Rights Practices for 2013. Bureau of Democracy, Human Rights and Labor of the United States Department of State. Retrieved April 30, 2024, from https://2009-2017.state.gov/documents/organization/220554.pdf↩︎
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Російська мова в Криму – і державна, і офіційна [Russian is both the state and official language in Crimea]. (2008, February 5). Radio Svoboda. Retrieved April 30, 2024, from https://www.radiosvoboda.org/a/884271.html↩︎
Tunman, Johann, Crimean Khanate, 1784↩︎
Aliev:2023↩︎
Shurchalo, Dmytro, 240. Jahrestag der ersten Annexion. Wie haben sie versucht, die Krym russisch zu machen? In: Radio Svoboda, 19.04.2023, https://www.radiosvoboda.org/a/krym-aneksiya-1783-rik/32370090.html (Zugriffsdatum: 20.11.2023).↩︎
Krim-Operation. (2023, October 11). Wikipedia. Retrieved April 30, 2024, from https://de.wikipedia.org/wiki/Krim-Operation↩︎
About Crimea: The Historical Background. (n.d.). Crimea Platform. Retrieved April 30, 2024, from [https://crimea-platform.org/en/krim-do-okupaciyi/istorichnij-ekskurs/#:](https://crimea-platform.org/en/krim-do-okupaciyi/istorichnij-ekskurs/#:)~:text=Founded%20between%20528%20BC%20and,orbit%20of%20the%20Roman%20Empire↩︎
Asan, E. (2023, May 18). Crimea was never Russian. Al Jazeera. https://www.aljazeera.com/opinions/2023/5/18/crimea-was-never-russian↩︎
Lytsevych, O.: ‘Crimea was always Russian.’ (2021, May 11). Chatham House – International Affairs Think Tank. https://www.chathamhouse.org/2021/05/myths-and-misconceptions-debate-russia/Mythos-12-crimea-was-always-russian↩︎
Wolczuk, K., & Pr. Dragneva, R. (2022, August 24). Russia’s longstanding problem with Ukraine’s borders. Chatham House. Retrieved April 30, 2024, from https://www.chathamhouse.org/2022/08/russias-longstanding-problem-ukraines-borders↩︎